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Rundbrief Januar 2019

Der Weg aus dem Konflikt

Margarethe Randow-Tesch

In dem Kinderbuch Alice im Wunderland fällt die kleine Heldin Alice in ein Kaninchenloch und landet in einem höchst seltsamen Wunderland, das jeder Logik entbehrt und in dem es vollkommen absurd zugeht. Es wird von launischen Tieren und Spielkarten bewohnt, allen voran einer grotesken Königin, die unablässig fordert, irgendjemandem den Kopf abzuhacken. Alle Regeln der Vernunft sind außer Kraft gesetzt, und nichts ergibt wirklich Sinn. Alice wächst und schrumpft nach Belieben, Szenen wechseln abrupt, und die Gespräche sind paradox und widersinnig. Im Laufe ihrer Abenteuer begegnet Alice einer weisen Katze, die ihr klar macht: »Hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt ... Wenn nicht, wärst du gar nicht hier.« Dann verschwindet sie und hinterlässt nur ihr Lächeln, das im Baum hängt.

Man kann diese Geschichte nicht nur als Kinderbuch lesen, sondern ebenso gut als Gleichnis, das die Absurdität einer Welt des Angriffs und der Besonderheit zeigt, die sehr ernst daherkommt und bei genauerem Hinsehen »Torheit ist oder ein dummes Spiel, von einem müden Kind vielleicht gespielt, wenn es zu schläfrig geworden ist, um sich noch zu erinnern, was es will« (Ü-I.153.6:4).

Dieses müde Kind sind wir alle, nicht als Personen in der Welt, sondern als gespaltener und träumender Geist, und das Lächeln der weisen Katze besagt, dass alles verrückt ist und nur halb so ernst wie wir, gefangen in unseren seltsamen Träumen, meinen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein manchmal sehr brutales und manchmal auch sehr nettes Märchen. Ein Märchen eben! In diesem Verständnis liegt die Freiheit. »Märchen können schön oder Furcht erregend sein, aber niemand nennt sie wahr. Kinder glauben vielleicht daran ... Wenn aber die Wirklichkeit aufdämmert, sind die Phantasien verschwunden« (T-9.IV.11.6-8).

Wer an den Punkt gelangt ist, die Welt und das eigene Leben aus einem so ruhigen Blick zu betrachten, ohne irgendetwas zu verleugnen, und dabei die eigene Rolle gelassen weiterzuspielen, hat die Arbeit im Wesentlichen getan. Das ist Normalität im besten Sinne des Wortes: Die Forderungen und Erwartungen an das Äußere haben sich gelegt und einer friedlichen Zugewandtheit Platz gemacht. Es ist diese innere Verfassung des Erwachsenseins, die im Kurs Wehrlosigkeit genannt wird. Man sollte sie nicht mit einem irgendwie gearteten Verhalten oder irgendeiner Rolle verwechseln. Gemeint ist eine innere Konfliktlosigkeit am Ende des Weges, die einer tiefen Einsicht in die eigene Natur und die Natur der Dinge entspringt und daher ohne einen geduldigen und meist schmerzhaften Wachstumsprozess des Nach-Innen-Schauens gar nicht ausgebildet werden kann.

Doch als Erstes gilt es, ehrlich das ängstliche und verwirrte Kind in sich anzuerkennen, die kleine Alice, die dringend der Perspektive der weisen Katze bedarf, weil sie das Wunderland so furchtbar ernstnimmt und einen Weg aus dem Konflikt innerhalb des Systems sucht. Laut Kurs gibt es ihn nicht.

Konfliktlosigkeit beruht auf der Heilung der Gespaltenheit im Innern: auf der Befreiung vom Glauben an das, was der Kurs magische Gedanken nennt, womit die tief verborgene Überzeugung gemeint ist, dass das Denksystem des Ego wahr ist und seine Abwehrmechanismen vernünftig sind – ein Glaube, den alle Bewohner des »Wunderlands« namens Welt miteinander teilen. Magische Gedanken sind unbewusste Gedanken. Sie besagen, dass Schuld wirklich und Rache unausweichlich ist. Ohne diese Gedankenausstattung ist es laut Kurs nicht möglich, scheinbar durch das Kaninchenloch des Ego in dieses wunderliche Land der Verrücktheit zu fallen, in dem hauptsächlich der Terror der getrennten Interessen herrscht und jeder wie die verrückte Königin versucht, vor den eigenen Angstfantasien wegzulaufen und auf der Suche nach Schuld wahllos einem anderen »den Kopf abzuhacken«. Doch der Mechanismus funktioniert nicht. Vor dem Weglaufen ist nach dem Weglaufen. Die Angst bleibt. Die ganze Zeit über aber hängt das Lächeln der weisen Katze im Baum und wartet auf die kleinste Bereitwilligkeit, wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Das Ende der Magie des Ego findet in jedem Augenblick statt, in dem das ängstliche Kind um die Interpretation der Vernunft bittet.

Daher ist nicht der Umstand, dass Alice scheinbar in ihrem Wunderland gelandet ist und was sie dort alles erlebt, von Belang, sondern wie sie damit umgeht. Das wiederum hängt davon ab, ob sie dem Lächeln der weisen Katze im Hintergrund oder ihrer eigenen begrenzten Sicht vertraut. Welchen Beweis will sie führen? Hierin liegt die Chance oder die weitere Verstrickung. Im Kurs heißt es: »Ärger als Reaktion auf wahrgenommene magische Gedanken ist eine grundlegende Ursache von Angst« (H-17.5:1). Wer »über einen magischen Gedanken streitet, den Gedanken angreift, versucht, dessen Irrtum zu begründen oder seine Falschheit aufzuzeigen, legt... nur Zeugnis ab für dessen Wirklichkeit« (H-18.1:2). Was sich als erster Impuls anbietet, nämlich gegen die Egomanifestationen Sturm zu laufen, verstärkt nur die magischen Gedanken der Schuld und Rache, macht sie wahr und gibt so dem Kreislauf Nahrung. Um der Magie des Ego zu entrinnen, ist es wichtig, stehen zu bleiben und sie aus der größeren Perspektive von außerhalb des Systems zu sehen. Der österreichische Psychoanalytiker Viktor Frankl schrieb: »Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum, der Raum der Macht. In ihm entscheiden wir die Wahl, die Art der Reaktion. Diese bewirkt dann unsere Freiheit und Entwicklung« (Zitatquelle leider unbekannt).

Das ist die Macht der Entscheidung, von der im Kurs die Rede ist. Es ist die größte Macht, über die wir als Bewohner dieser Welt verfügen. Ehrlichkeit bedeutet, die eigene Sichtweise und Reaktion als Projektion und damit als eigene Verantwortung zu begreifen; das ist der zugleich so schwere und leichte Weg aus der Gespaltenheit. Schauen und still sein ist die konstruktive Haltung, um den Ort im Innern zu finden, an dem die Magie des Ego keine Bedeutung hat und wir keine Abwehr brauchen. Im Kurs heißt es: »Wie überwindet man Illusionen? Sicher nicht mit Gewalt oder Ärger oder indem man sich ihnen auf irgendeine Weise widersetzt. Einfach dadurch, dass du die Vernunft dir sagen lässt, dass sie der Wirklichkeit widersprechen« (T-22.V.1:1-3).

Sich selbst (und damit auch andere) als spirituelles Kind zu sehen, das mit der Unwissenheit und Verwirrung der Angst kämpft und durch die vielen Stadien des Reifeprozesses und der damit verbundenen Schwierigkeiten geht, wirft ein versöhnliches Licht auf alle Konflikte und Irrtümer. Im Kurs steht der liebevolle Satz: »Auf welch freundlichere Weise könntest du Kinder wecken als durch eine sanfte Stimme, die sie nicht erschreckt, sondern nur daran erinnert, dass die Nacht vergangen und das Licht gekommen ist? Du sagst ihnen nicht, dass die Alpträume, die sie so furchtbar ängstigten, nicht wirklich sind, denn Kinder glauben an Magie. Du versicherst ihnen einfach, dass sie jetzt sicher sind« (T-6.V.2:1-3).

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